Rückschau: Das Ende in den Wolken. Auftaktveranstaltung des ZSH in Reitwein

Wer hätte das gedacht? Es ist der letzte Samstag Abend Ende Januar und in Reitwein ist der große Saal des Event-Gasthofs „Zum Heiratsmarkt“ voll mit Menschen aus Nah und Fern. Sogar ein Pilot der Fluglinie United Airlines sitzt im Publikum. Er hat extra seinen Rückflug in die USA verschoben. Mit einer derart großen Resonanz ist zu dieser Zeit im Jahr eigentlich nicht zu rechnen. Zur ersten Veranstaltung des Zeitreise Seelower Höhen e.V. in 2018 kommen viele Teilnehmer vergangener Schlachtfeldtouren des Vereins und noch mehr von jenen, die Geschichte einfach mal an einem anderen Ort als dem heimischen Lesesessel, Fernsehsofa oder PC-Bildschirm erfahren wollten. Nasskalte Witterung lädt ja nicht gerade zu Ausflügen in die freie Natur ein, eher zum gemütlichen Beisammensein in gut geheizten Räumlichkeiten.

Das Programm ist dennoch ganz darauf angelegt, das Publikum von Anfang bis Ende zu fesseln. Kein Vortrag allein, im herkömmlichen Sinne. Der Kampf im Himmel über dem Oderbruch ist hart, spannend und in seinen Details vielen kaum bekannt. Er ist freilich nicht entscheidend für den Ausgang der Schlacht an der Oder; auch das mach dieser Abend überdeutlich klar. Geschichtsspezialist André Vogel ist sehr gut vorbereitet. Seinen klar strukturierten Vortrag hat er in zwei Abschnitte geteilt. Für Entspannung zwischendurch sorgt das reichhaltige Abendbuffet. Extra für das neue Format hat André Vogel regelrecht ein Museum zum Anfassen mitgebracht. Vor der Tribüne ragt unübersehbar eine 250 Kilo Bombe auf und allerlei Arten von Bordmunition, Bomben, Minen und eine Bordwaffe nehmen gut vier Meter Tischfläche im Zentrum des Saales ein – alles Dinge, die erst lange nach dem Krieg gefunden werden. Es sind Kollegen von André Vogel, die solche Hinterlassenschaften bergen und ihnen ihre tödliche Konsequenz nehmen. Entschärfen heißt das. Auch der Referent selbst tut das. Es ist seine tägliche Arbeit. Dass das, was vom Himmel fiel, auch heute noch gefährlich sein kann, das berichtet André Vogel immer wieder an diesem Abend und rückt damit die Geschichte des Luftkrieges an der Oderfront sehr nah an das heutige Leben der Gäste.

Fern von jeglicher Fliegerromantik wird klar, dass sich über dem Kriegsgebiet Oderland der Menschheitstraum vom Fliegen auflöst in einen Verzweiflungskampf, in ad hoc geschaffenen Strukturen, die den Rest der Heimat verteidigen helfen sollen, in technische Finessen, die wie sehr edle Tropfen auf einen überheißen Stein wirken: „Mistel“-Gespanne aus unbemannten Bombern und Jägern, Luft-Luft-Raketen, Schwimmbomben mit Fotozellen, Lenkraketen, Düsenjäger. Auf der nicht-technischen, der menschlichen Seite stehen erschöpfte Piloten, junge, zu junge, die hastig ausgebildet ins Verderben steuern und wenige „Asse“ die meisterhaft fliegen und kämpfen, ohne darin einen anderen Sinn zu sehen als den reinen Selbstzweck, der auch nur möglich ist, solange es Treibstoff für die hochgezüchteten Motoren gibt. Je ausgefeilter, je zukunftsweisender die Luftkriegs-Maschinerie, umso vergeblicher scheint ihr Einsatz. Für Fanatismus und Ehrgeiz gilt gleiches. Die Aktionen der deutschen Luftwaffe gipfeln in Selbstopfereinsätzen auf die Oderbrücken der Roten Armee. Die Diktatur am Abgrund beschwört nur allzu gern den Opfertod. Hier wird er grausame Realität. Piloten stürzen sich mit ihren Flugzeugen auf die sowjetischen Holzbauten, die zu Dutzenden den Fluss überspannen. Es sind frisch gebackene Väter unter diesen Angreifern, gerade verheiratete, junge Männer. Männer, die allen Grund gehabt hätten, alles Mögliche zu tun in dieser Zeit des absehbaren Endes, alles, nur nicht das. Sie sterben und ihre Motive bleiben Rätsel. Sie sterben und die Brücken sind zwei Tage später wieder da. Die Vorgesetzten, die sich diesen tödlichen Unsinn ausdenken, planen und organisieren, auch um sich damit zu profilieren, überleben den Krieg und werden alt.

Auf Seiten der Roten Armee steigen Frauen in altmodische, spirrlige, spärlich instrumentierte, untermotorisierte und mit Leinwand bespannte Doppeldecker, belächelt von den Machos mit ihren modernen Jagdmaschinen aus russischen oder amerikanischen Flugzeugfabriken. Nachts und in Baumwipfelhöhe tasten sie sich nahezu lautlos an die deutschen Stellungen heran; im Gleitflug, mit abgestelltem Motor, werfen sie ihre Bomben mit der Hand ab. Die deutschen Soldaten sehen sie nicht kommen und sie hören sie nicht gehen, wenn ihnen Brand und Splitter um die Ohren fliegen. „Nachthexen“ schimpfen sie sie: ein Wort voll Hass und Angst gleichermaßen.

Fliegen; so schön klingt das. Kämpfen manchen vielleicht auch. Doch der Kampf ist endlos, denn Ablösung gibt es nicht. Die Piloten der Luftwaffe fliegen bis sie sterben oder bis der Krieg zu Ende ist. Aberhunderte Einsätze kommen so zusammen, stets in der drangvollen Enge des Cockpits, mit bis zu 20 mm Panzerstahl im Nacken in noch mehr Angst. Jeder Anflug auf die Linien dieser Front ist bei der erdrückenden Überlegenheit der Roten Armee an Fugzeugen und an Flugabwehrwaffen russisches Roulette mit vier Kugeln statt einer.

Was ist das überhaupt für ein Arbeitsplatz da zwischen 100 und 10.000 Metern Höhe? Wir kennen nur klimatisierte Passagiermaschinen, in denen wir in Freizeitkleidung auf komfortablem Gestühl sitzen. Eine Figurine im Saal zeigt etwas vom Damals: Hauben, Jacken und Hosen aus Tierfellen schützen gegen Kälte. Dunkle Brillen schützen die Augen vor dem ewigen gleißenden Licht über den Wolken und vor Splittern bei Treffern im Kabinendach. Pervitin vertreibt Müdigkeit und Furcht – und macht abhängig. Gegen den totalen Zusammenbruch jedoch, schützt letztlich gar nichts mehr.

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